Ich bin viele

Sie wird heuer keinen Urlaub buchen können. Ein weiteres Jahr das Meer nicht riechen. Den Wind nicht spüren. Das Salz nicht schmecken. Langsam geht ihr das Ersparte aus. Ein Virus hat ihr einen Strich durch alle Rechnungen gemacht.

Den ersten Lockdown war sie im Nachtdienst. Oder hat geschlafen und mit einem Auge Serien geschaut. Netflix hängt ihr zum Hals heraus. Amerikanische Teenieserien sind nur mit einer Flasche guten Rotweins zu ertragen. Mittlerweile ist sie mit vielen anderen Menschen im dritten Lockdown. Das alte Normal wird nicht wieder kommen. So viel ist vielen klar. Selbst wenn sie es nicht zugeben, nicht sehen wollen. Willkommen im Zeitalter der Digitalisierung. Du willst ins Theater gehen? Streame online. Du brauchst neue Kleidung? Blättere dich durch Online-Kataloge mit aberwitzigen Preisen für Herbst- und Wintermode, die liegen geblieben ist und nun dringend raus muss. Messen? Konzerte? Veranstaltungen? Egal, ob du geduscht hast. Wurscht ob du im Pyjama durch die Gegend schlurfst. Und yeah, egal, ob mit oder ohne zwickenden BH. Konsumiere online! Komm vorbei in der Online Galerie. Im Online Shop. Im Gratis Online Kongress. Nur jetzt. Nur in der Pandemie.

Bunt!

Online, wo sonst, hat sie einen Vortrag gehört, wie befreiend schreiben sein kann, wenn man sich isoliert fühlt. Sie hat als Kind und Jugendliche Tagebuch geschrieben. Eine jammernde Hommage an all die Ungerechtigkeiten und Schandtaten des Lebens und besonders der Erwachsenen an ihr. Bis ihr das so auf die Nerven ging, dass sie die Bücher verbrannte. Die Dame im Vortrag spricht von der Möglichkeit, zu schreiben und zugleich zu zeichnen. Gefühle zuzulassen, diese auszudrücken. Und siehe da, es tut ihr gut. Jedenfalls besser, als sich Horror-Nachrichten und abartige Social-Media-Kommentare hinein zu ziehen. Sie stellt sich Fragen. Wohin es in diesem Leben noch gehen könnte. Wenn schon Krise, dann nutzen. Wofür brennt sie? Noch? Viel Feuer spürt sie nicht. Dafür eisige Füße. Als Säuglingsschwester in einem kleinstädtischen Krankenhaus liebte sie es, beim Baden und Füttern in die manchmal geöffneten Augen der kleinen Wesen zu schauen, die gerade in diese Welt geschlüpft sind. Sie erinnert sich, wie kerzengerade dieser Blick eines drei Tage alten menschlichen Wesens sein kann. Direkt in sie hinein. Wissend. Als wüsste es genau, was es ist. Als wüsste es genau Bescheid. Einige weinen ununterbrochen, manche wirken verwirrt. Keiner dieser kleinen Menschen gleicht dem anderen.

Die Entstehung eines Handpaares

Hat sie die Gaben ausgeschöpft, mit denen sie geboren wurde? Was hat sie für Fähigkeiten, Talente? Wieso singt sie nicht mehr? Wann hat sie aufgehört, ihre Wohnung neu zu gestalten? Sie, die es immer nur ein paar Monate aushält, wenn alles gleich aussieht? War es ihr ehrlicher Wunsch, Kinderkrankenschwester zu werden? Oder hatte ihr Berufswunsch mit der von ihr so verehrten Großmutter zu tun, die nach dem Krieg elternlose Kinder betreute? Bei der Arbeit im Krankenhaus gibt es Krisen mit Oberschwestern und Oberärzten. Sie dürfe sich das nicht so zu Herzen nehmen, wie verängstigt Mütter und Väter mit ihren Kindern umgingen. Sie solle professionell Abstand wahren, wenn eine Mutter lieber eine Zigarette im Raucherraum rauche als ihr Neugeborenes zu baden. Und es ginge sie nichts an, dass die junge Mutter auf 3B das vierte Kind bekommen habe und von Anfang an vom Jugendamt betreut werde. Vielleicht schaffe sie es ja dieses Mal.

let it glitzer!

Sie erinnert sich schreibend an einen Sommer als junge Frau, als sie einer Künstlerin dabei hilft, mit Kindern Handpuppen herzustellen. Es ist ein bezahltes Praktikum, die Gemeinde unterstützt die Künstlerin. Direkt am Badesee. Mitten unter den sonnenbratenden Erwachsenen steht ein bunter Bus mit weinrot-weiß-gestreiftem Vorzelt. Auf Bierbänken sitzen Kinder und drücken und pressen mit Pappmaché, Draht und Kleister unförmige, tropfende Knödel zu Köpfen zusammen. Ihre Aufgabe damals ist es, an der Nähmaschine einfachste Stoffkleidung herunter zu radeln. Auch Handpuppen wollen chic aussehen. Wie viel Spaß sie hatten! Sie werden nach Italien und Slowenien eingeladen und bekommen Besuch von ähnlich arbeitenden Künstlerinnen aus den Nachbarländern. Wie unkompliziert sechsjährige Kinder neues Material auf die Figuren klatschen oder Überflüssiges abschaben. Und welche Geschichten sie erzählen. Manche sind streng geheim: „Bitte sag nichts meiner Oma, aber ich träume immer noch vom Hund, der vorm Haus zusammen geführt wurde.“ Manche sind äußerst gefährlich, von bissigen Drachen und bösen Ungeheuern, die unter Betten und in Dachböden schlafen und Schuld daran sind, wenn Kinder nicht schlafen können. Die lieblichen Prinzessinnenträume sind sowieso dabei. Und manche Geschichten sind so besonders, dass sie genug Material für ein Buch, einen Film oder ein Theaterprojekt liefern würden. Wieso hatte sie diesen Sommer so vollkommen aus ihrem Gedächtnis getilgt? Und wieso taucht die Erinnerung wieder auf? Jetzt, wo sie froh sein kann, dass sie wenigstens eine Fixanstellung und bezahlte Arbeit hat?

Kleine Hände aus Paperclay, die von einer Menschenhand gehalten werden
… sind so kleine Hände!

Nächstes Mal, wenn die Clowns von den Roten Nasen kommen, wird sie evntuell, also unter Umständen und wenn die Situation passt, nachfragen, wie man so ein Clown wird. Pandemie hin oder her. Was ihre Kolleginnen darüber denken wollen oder auch nicht. Einer dieser Rote-Nasen-Clowns hat schon zweimal gefragt, ob sie zum Theaterstück mitkommen wolle, das sie in einer Schule aufführen. Sie bräuchten immer Mitspieler. Und irgendwie habe er das Gefühl, das könne sie interessieren…

Listen!

Ich habe tausend und eine Art, mich auszudrücken. Damit bin ich auf die Welt gekommen.
Und ich begrenze mich. Traue mir nichts zu. Habe Angst vor Versagen.
Ich bin allein. Mit den Kindern. Mit dem Geldverdienen.
Und ich lebe behütet und gut mit meinen Freundinnen und Freunden.
Ich liebe den Wald, das Meer, die blühende Sommerwiese.
Und ich reise für mein Leben gerne herum.
Ich bin ein Opfer. Mir wurde übel mitgespielt, als ich nicht damit rechnete.
Und ich bin eine Drachin, eine Löwin, eine Ratte.

Ich spucke Gift und Galle und verletze dich, wenn du mir oder meinen Liebsten zu nahe trittst.
Ich lache viel und gern und laut. Auch über Dinge, die du nicht witzig findest.
Und meine wilden Tränenflüsse kennen jene, die mich kennen.
Ich bin gerne allein. All-eins mit der Welt.
Und ich liebe die Zeit mit Menschen, die einander sein lassen können.
Ich bin die Tochter, die Schwester, die Tante, die Großmutter und die Enkelin.
Und ich bin Teil dieser ganzen Menschheit.
Ich bin ich und ich bin verbunden mit jedem Du.
Ich bin die ich bin.

Lisa Engel

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