Gestern erst wurde mir so richtig klar, wie bunt unsere Kultur geworden ist. Wenn man seit fast drei Jahren täglich in diesem gesellschaftlichen Wandelprozess drin ist, dann wird alles alltäglich. Der ethnische und kulturelle Hintergrund zieht uns mehr an als er uns abstößt, wir sind so gemacht. Vielleicht hat es wirklich mit meinem multikulturellen, typisch europäischen Hintergrund, den ein Gentest sichtbar machte, zu tun, dass ich zwar Ängste vor dem Fremden wahrnehme, das Interesse an dem Neuen, Unerforschten, zu Erlebenden aber größer ist. Es zieht mich magisch an.
Was hat sich unmerklich verändert: wir haben unser Sprechtempo schon in den Deutschkursen reduziert, bemühen uns, deutlich zusprechen, viel zuzuhören, aktiv in Konflikte einzugreifen, wenn wir darum gebeten werden. Und nur dann. Eines der größten learnings. Wir lernen Namen auszusprechen, deren Konsonanten und Vokale unser Sprechsystem kaum herausbringt. Lachen miteinander darüber, dass es dem Kommunikationspartner mit unserer Sprache genau so geht. Probieren für unseren Gaumen fremde Geschmäcker aus. Manches kommt für immer in die Liste der Lieblingsspeisen, manches bleibt fremd. Wir spüren und erleben das Pulsierende, Lebendige, Herzliche, obwohl das für den gelernten Österreicher, die gelernte Österreicherin mit dem Bedürfnis nach Respektabstand eher suspekt ist. Natürlich auch mir, ich bin ja hier sozialisiert. Nie werde ich vergessen, dass wir damals im August 2015 zwischendurch einfach heimfahren mussten, um uns eine Stunde auszuruhen von all dem Temperament, all den Emotionen und der vollkommen ungewohnten Nähe zwischen den Menschen.
Nun mitzuerleben, dass auch bei den zugezogenen Menschen innerer und äußerer Wandel passiert, seit sie hier in Österreich um Schutz und Unterkunft angesucht haben. Manche Herzens-Menschen schmerzlich zu vermissen, die eine Weile Teil unseres Lebens waren, jetzt einerseits anderswo in Österreich leben und versuchen, neu anzufangen. Oder, viel tragischer, sie zurückgeschoben in ein Herkunftsland wie Afghanistan zu wissen, für das eine Reisewarnung für Menschen mit österreichischem Pass gilt. Nicht aber für Menschen, die vor vor genau diesem korrupten, kriminellen und fundamentalistischen System geflohen sind. Zu hören, dass tatsächlich Menschen aus den Privatquartieren abgeholt und in ein größeres Quartier in die Landeshauptstadt gebracht werden. Sie haben drei Tage Zeit, zu packen und alles aufzulösen. Oder es geht direkt nach Niederösterreich in die Schubhaft und dann in das Flugzeug zurück in ein Land, das manche kaum kennen, weil sie schon ein Leben lang auf der Flucht vor den Kontrollfreaks dieses Systems sind. Und sorry, ich muss das einmal in dieser Klarheit sagen – es sind auch gut integrierte, gut Deutsch sprechende Menschen, die das betrifft. Manche waren in erfolgsversprechenden Ausbildungen und Schulen. Manche intensiv auf der Suche nach Arbeit, nach Beitragen in unser System. Ich bin nicht einverstanden, diese Menschen abzuschieben. Punkt.
Ja, klar, es gibt Probleme hier in Österreich. Im Zusammenleben. Innerfamiliär. No Na Net. Glauben wir wirklich, wir hier hätten diese Probleme des Miteinanders vorher nicht gehabt? Österreich, die Insel der Seeligen? Wo Menschen zusammen leben, gibt es Konflikte. Und manchmal keine einfachen Lösungen. Und manchmal gibts grad keine Lösung. Das ist das Leben, es ist eine einzige Herausforderung. Wir sind lieber Teil der Lösungen als Teil des Problems. Danke lieber Martin Kirchner von den „Pioneers of Change“ – genau darum geht es. Du hast bei den Tagen der Zukunft ausgesprochen, wofür auch wir gehen. Auch wir stolpern immer wieder in dieses alte Denken und versuchen, aktuelle Probleme mit alten Lösungen zu lösen, die sich überlebt haben. Und ja, genau, auch uns zittern manchmal die Knie vor so viel Neuem und Ungewohnten. Und zu manchen Menschen bauen zwar wir keine Brücken, dafür schaffen es andere. Es braucht sehr viel Mut und Durchhaltevermögen, all die inneren Grenzen wahrzunehmen, sie manchmal zu schützen, weil sie nötig sind. Und manchmal tief Luft zu holen und drüber zu gehen. So viele innere blinde Flecken werden sichtbar, die gut unter Verschluss waren. So viele Vorurteile, die getriggert werden. Niemals hätte ich gedacht, dass der angekündigte gesellschaftliche Wandel auf diese Weise geschieht. Wir tun gut daran, uns mit unserer Kultur, mit unseren gesamteuropäischen Wurzeln daran zu beteiligen und uns nicht in gute alte Zeiten zurück zu sehnen, die es nie gab. Lernen wir Geschichte!
Wir haben ehrlich gesagt mit einem kleinen Fest unseres Kooperationspartners VOBIS und der Klagenfurter Universität im Klagenfurter Lendhafen gerechnet. Selten in meinem Leben liege ich so falsch. Ich muss mich regelrecht von meinen dauerbesetzten zwei Nähmaschinen zum Upcyceln von Mustervorhängen und Möbelstoffen wegstehlen, um zumindest ein bisschen näher an die Bühne und unter die Menschen zu kommen. Unser europäisches Kulturerbe mischt sich stundenlang vollkommen selbstverständlich mit dem arabischen, persischen und afrikanischen Raum. Singend, tanzend, redend, gustierend und trinkend. Ansteckend, mitunter tragisch und dann wieder fröhlich und mitreißend komisch – voll das Leben. Meine Fotos können nur teilweise wiedergeben, wie bunt vielfältig der Nachmittag und Abend war. Der Hafen ist gesteckt voll. Mein Mann, der durch solche Veranstaltungen wieder in seine Jugend zurückversetzt wird, lässt sich glücklich im Gedränge treiben, wenn er nicht für mich an den Nähmaschinen aufpasst, dass kein Finger angenäht wird. Unser Achtjähriger taucht überhaupt nur auf, wenn er Hunger oder Durst hat. Er ist zu sehr damit beschäftigt, zu spielen und Kontakte zu knüpfen, wie nur Kinder das können.
Ina, die den „Völkerchor“ aus Völkermarkt mit mir so vielen bekannten und vertrauten Menschen leitet, spricht mich auf meine Puppen an. Sie meint die langgliedrigen, schmalen. Und erzählt mir von einer armenischen Puppenkultur, an die sie sich durch diese Wesen ganz intensiv erinnert fühlt. Fragt, ob ich denn interessiert sei daran, solche Puppen mit genau dieser traditionellen Kleidung herzustellen. Spürt ihr mein Herzklopfen? Ist das nicht magisch? Der „Völkerchor“ hatte, wie unser „Puppen.Raum“, bei den Tagen der Zukunft in Arnoldstein, ein professionelles Coaching gewonnen. Wir haben uns alle miteinander ein bisschen näher kennen gelernt. Nun wird sonnenklar, dass auch hier die neue, alte Verbindung zu Evelin gestärkt wird, mit der wir vor 11 (!) Jahren grenzenlos kochten, um Frauen hinterm Herd heraus zu holen und mit ihnen Deutsch zu sprechen. Jutta war damals die dritte Verbündete. Dort knüpfen wir wieder an. Oh ja, und ich werde wieder singen. Sabrina, Melanie, kommt ihr mit? Und oh ja, ich komme auch gern runter nach Völkermarkt und weihe euch in die Geheimnisse guter Fotografie ein. Grenzüberschreitend. Natürlich.
Kennt ihr den Film „Drachenläufer“ zufällig? Neben unserem Upcycling-Stand waren drei Männer unermüdlich am Bauen von afghanischen Flugdrachen. Ich muss mir das noch einmal in Ruhe zeigen lassen. Das ist eine traditionell afghanische Kunst, diese äußerst fragilen Gebilde aus Seidenpapier und Holzstäbchen und Leim herzustellen. Ach, und Konrad vom Verein „Das Lastrad“ war wie vereinbart mit seinem Reparaturanhänger da und erzählt mir in der Nacht, dass er innerhalb weniger Stunden zehn Fahrräder flott gemacht hat. So ist Konrad. Danke, dass du diesen Weg mit uns gemeinsam gehst. Der Herrenschneider Ahmad, der mit seiner herzlichen Freundlichkeit und seinen schönen Taschen auch in unserer Familie großen Eindruck hinterlässt, verspricht, mir seine Quelle bezüglich Nähmaschinenseide zu nennen, ich kann einen weiteren wichtigen Punkt auf meiner To-do-Liste abhaken. Und das hier musste ich auf Frau Google fragen: Die Piñatas sind bunt gestaltete Figuren, heutzutage aus Pappmaché, früher aus mit Krepp-Papier umwickelten Tontöpfen, die bei Kindergeburtstagsfeiern mit Süßigkeiten und traditionell mit Früchten (Mandarinen, Zuckerrohr, Guaven, Tejocotes, Jicamas, Erdnüssen) gefüllt sind. Sie sind in Mittelamerika bei Kindergeburstagen und zur Weihnachtszeit und in Spanien zu Ostern verbreitet. Auch am Fest der Vielfalt kennengelernt (Quelle: Google). Auch das haben wir gestern zum ersten Mal live erlebt. Ich treffe „alte“ Freunde aus meiner Mentorenausbildung und aus der Lais-Schule. Meine Freundin Stefanie macht Acroyoga, mittlerweile so gut, dass sie das herzeigt und ich sie wenigstens ein paar Minuten bewundern konnte. Wow. Alles neu. Alles nicht beängstigend sondern schön.
Eines möchte ich zum Abschluss noch loswerden: ich liebe es, zu feiern. Seit drei Jahren bekomme ich ein Gespür dafür, wie feiern noch geht. Dafür danke ich euch allen, ihr, die ihr ganz still und planlos geworden seid, wenn wir euch auf meine Geburtstags- oder auf Hochzeitsfeiern eingeladen haben. Wenn ihr auf unserem Sommerfest für Schwung gesorgt habt. Das soll eine Feier sein, habt ihr gefragt. Wieso die Menschen so leise seien. Wo denn die Musik sei, das stundenlange Tanzen, das tagelange Essen bis zum Umfallen und das Trinken. Und dann habt ihr uns mehrmals gezeigt, wie ihr euer Zuckerfest feiert. Oder beim Grillen das Leben feiert. Oder wie ihr euch freut und das feiert, wenn ein neues Kind das Licht der Welt erblickt. Oder ich habt mich auf eine tschetschenische Hochzeit eingeladen, die ich niemals in meinem Leben vergessen werde. Diese Kunst zu feiern, die solltet ihr weiter geben. Es ergänzt uns auf eine sehr lebendige, erdige und inspirierende Art und Weise.