Lisa Engel – der versuch einer biografie
„Was machst du da?“ fragt mich der kleine Knirps mit den schwarzen Knopfaugen. Ich schätze, er ist gerade aus der Schule gekommen. „Ich mache einen Puppenkopf“, sage ich. Mit einer sehr feinen Filznadel verdichte ich die Schafwolle rund um die Augen des Gesichtes, das vor mir liegt. Der Knirps rollt die Augen. „Du tust ihm weh, hör auf!“ schimpft er. Ich lege die Filznadel zur Seite, lege den Kopf mit den schon sichtbaren Gesichtszügen in beide Hände und warte. „Wird es ein Mädchen oder ein Junge?“ fragt Schwarzauge. Er rückt näher. Ich rutsche ein wenig zur Seite. „Kannst du schon etwas erkennen?“, frage ich ihn. Kreative Denkpause. „Er sieht ein bisschen aus wie mein kleiner Bruder“, sagt der Knirps. „Kannst du ihm vielleicht Dino-Augen machen? Wie der Tyrannosaurus Rex? Ich brauche einen Dino, der mich im Wald beschützt. Dann haben die wilden Tiere Angst und ich kann mir eine Höhle bauen“, sagt er. „Ich kann das probieren“, sage ich. Und muss schmunzeln.


Wie diesem kleinen Knirps geht es auch mir, wenn ich ein neues Wesen erschaffe. Vielleicht habe ich in der Früh beim Journailing und beim Schreiben und Zeichnen mit der linken Hand ein Wesen gesehen, dass mich stärkt. Mich schützt. Oder mir einfach Freude machen würde. Wie durch ein Wunder entwickeln sich kürzere und längere Geschichten. Wandern durch die Finger über die Stifte aufs Papier und zeigen sich. Immer noch ein bisschen ungelenk, ich spüre die Knoten im Hirn. Und weiß, hier verschaltet sich etwas neu. Ich lerne.
Nie geht es nur um die Puppe. Diese Geschöpfe bringen ein ganzes Universum an Erfahrungen, Geschichten, Begegnungen und Auseinandersetzungen mit sich. Worte tauchen auf und werden hingemalt. Ergeben scheinbar keinen Sinn. Symbole können mir auffallen. Gerüche, Farben, Formen. Und dieses unwiderstehliche Bedürfnis, sofort anzufangen. Material zu suchen, Schnitte zu entwickeln. Der Schreibtisch ist langsam übersät mit kleinen Zetteln meiner Ideen. Ich rede beim Morgenkaffee mit meinem Mann, erzähle ihm, was ich gezeichnet habe. Dabei entstehen neue Ideen, wie ich das Wesen umsetzen könnte. Und dann gibt es kein Halten mehr.


Jetzt heißt es, dem inneren Prozess zu folgen. Auch beim handwerklichen Tun steigen weiterhin Geschichten hoch. Unpassend, unlogisch und oft genug unerwartet. Ich lasse sie in mir hochblubbern wie Seifenblasen, mein Herzklopfen ist ihr Wegweiser. Ich fühle mich zu einer bestimmten Technik hingezogen. Arbeite langsam und genussvoll. Es taugt mir, so viel als möglich direkt mit der Hand zu arbeiten, obwohl mir auch die Nähmaschine gute Dienste leistet. Manchmal nehme ich das Wesen auf Spaziergänge mit. Fotografiere es, wenn etwas besonders reizvoll ist.
Manche Prozesse dauern Stunden, andere Tage. Es können auch Wochen und Monate sein. Weil andere Ideen auftauchen. Weil es einfach nicht weiter geht. Weil etwas zur Ruhe kommen muss vorm nächsten Schritt. Manchmal sind die Tage zu kurz, um all das umzusetzen, was gern umgesetzt werden will.
Ob ich das immer schon gemacht habe? Schön wärs! Mein Leben ist selten linear, meines dreht sich spiralig. Es gibt Sackgassen und Baustellen. Dreispurige Autobahnen mit Geisterfahrern. Und manchmal fährt mir der Fahrtwind von der Küste unters Fahrzeug und hebt mich fast aus.


Eine Ausstellung der Kärntner Puppenkünstlerin Elli Riehl war ein einschneidendes Erlebnis. Eine ländliche Szene mit handgemachten Puppen spielte sich hinter der dicken Glasscheibe ab. Die Figuren lachten laut und umarmten sich. Sie kämpften miteinander, bissen sich gegenseitig, weinten und schrien. Ein Bub versteckte sich bibbernd unterm Tisch. Ein hungriges Mädchen bettelte die Mutter um ein Stück Brot an. Ein Hund pieselte ans Tischbein. So viel Leben, so viel Ausdruck! Ich scheiterte als Kind kläglich, als ich selbst solche Wesen wickeln und nähen wollte. Von einer Kultur des Scheiterns wussten wir in den 80er Jahren noch weniger als heute. Es war ein Versagen auf voller Linie. Es tat weh. Also – nie wieder.
„Nach der Matura bist du frei, kannst du machen, was du willst! Aber jetzt musst du da durch!“, hörte ich. Erst meine Kinder sollten wütend im Quadrat springen und die gut gemeinte Forderung ablehnen. Theoretisch bin ich eine Null. Ich muss alles angreifen, um zu lernen. Auch das wusste ich damals nicht. Studium und Matura bedingen einander. „Creative Writing“ war in den 90er Jahren unbekannt. An den österreichischen Universitäten wurde Schreiben in Form von Germanistik und Publizistik angeboten. Was andere liebten war für mich der totale Reinfall.
Ein lebendiger Traum durchkreuzte meine Studienpläne. Da war ich Fotografin. Und auf Reisen. Ich schmiss das Studium augenblicklich. Kurz wollte ich auf die Graphische wechseln, um Fotografie als Kunstform zu studieren. Es ging sich wirtschaftlich mit Wohnung und Leben in der Großstadt nicht aus. Und ich wollte auf keinen Fall zurück aufs Land. Dann lieber die Lehre abschließen. Ich träumte davon, nach Frankreich auszuwandern und dort als Fotografin zu arbeiten.
Ein ecuadorianischer Freund wusste von meiner Liebe zu Puppen und erzählte mir begeistert von seiner Zeit in Paris an der Kunstakademie, als er mit dem Handpuppentheater in den Straßen unterwegs war. Ob das was für mich wäre? Wieder kriegte ich meinen Arsch nicht hoch. Gegen den Willen aller heiratete ich und wurde Mutter. Wir kehrten Wien den Rücken, ich landete wieder in Kärnten. Assistierte ein bisschen hier. Fotografierte ein bisschen dort. Als ich meiner Tochter eine selbstgenähte Puppe aus einer wiederaufflackernden Phase des Puppenmachens anbot, lehnte sie dieses Angebot kategorisch ab. Sie war vier Jahre alt. Und ich zu spät mit meinem Angebot. Wieder mal.
„Was wollens mit denen Puppen? Sie sind Fotografin, da verdient man wenigstens was“, sagte der Berufsberater vom AMS. Zu diesem Zeitpunkt bereits alleinerziehend kümmerte ich mich mehr darum, monatlich und regelmäßig Geld zu verdienen. Machte mich als Pressefotografin und Journalistin selbstständig. Kaufte tonnenweise Zeitschriften und Bücher zum Puppenmachen und kreativen Arbeiten. Blätterte herzklopfend darin. Wagte aber nicht, ins kalte Wasser zu springen.
An meinem fünfzigsten Geburtstag fiel mir wieder ein, was ich mir in einer rabenschwarzen Phase als Alleinerzieherin geschworen hatte. „Kommst du je in die Situation, nur für dich allein sorgen zu müssen, dann machst du das, was du wirklich willst.“ Wie durch Magie drehte sich jetzt in meinem Leben alles. Jetzt sprang ich. Das Wasser war eisig kalt. Glasklar und herrlich. Ich studierte Malerei. Fotografierte künstlerisch. Entwickelte gemeinsam mit uns anvertrauten zugewanderten Menschen eine Textilwerkstatt, durch die mein Weg klarer und sichtbarer wurde.


Durch meine Arbeit mit und an den Wesen öffneten sich mir Türen in die Welt, von denen ich meist nur geträumt hatte. Jedes englische Tutorial, jede MAL, jedes Forum bot Kontaktangebote in eine Welt hinter meiner Welt. Dort sind wir nämlich mit vollem Körpereinsatz daheim, wir Puppenmacherinnen – meistens sind wir Frauen. Meistens wird Wissen großzügigst geteilt. Und einige von uns haben hervorragende Bücher verfasst. Darauf werde ich noch stärker in meinem Blog eingehen.
Heute lebe ich als Spätberufene meine Buntheit, meine Lebendigkeit und meine Fantasie als Künstlerin im Bereich textiler Figuren. Als hätte ich nie in meinem Leben etwas anderes gemacht. Vergessen ist das Zaudern und das Zagen, ich sei zu alt, zu altersweitsichtig, hätte nicht mehr genug Zeit in diesem Leben, sei einfach zu spät. Eine neue Brille hat Wunder gewirkt. Ich sehe auch in der Nähe wieder klar. Und ich schreibe und fotografiere, um die Ergebnisse für andere Menschen sichtbar zu machen. Ich entwickle mich ständig weiter. Dieses künstlerische Feld ist unüberschaubar groß. Ständig habe ich das Gefühl, etwas Neues zu finden und probiere mich in alle Richtungen aus.


„So wie es nie zu spät ist, einen Baum zu pflanzen, so ist es nie zu spät, dem inneren Ruf zu folgen.“
Lisa Engel, Dezember 2020