Wir sind hier in Stoberdorf in der neunten Woche unserer Quarantäne mit einem Homeschooler. Aus Gründen, würde meine Freundin Ina sagen. Irgendwann wurde es mir in den letzten Wochen zu langweilig, am Abend Pullover und Mützen und Socken für meine Wesen zu stricken oder zu häkeln. Abgesehen davon, dass sie diese tollen Stücke nicht übereinander anziehen können, war es vom Prozess her logisch, die Wesen selbst auf diese Art in Angriff zu nehmen. Häkeln fällt mir leicht, nur gefällt mir das Maschenbild nicht für eine Hautoberfläche. Also entscheide ich mich für das Stricken. Raus aus meiner Komfortzone, mal wieder. Yasemine und ein zweites Wesen entstehen. Von den Zehenspitzen bis zum Hals und zu den Handgelenken Strickmaschen. Mit einem Spiel feiner Sockenstricknadeln. Ganz old fashioned, immer in Runden und mit vielen Markern. Die übliche Zettelwirtschaft für auf- und abgenommene Maschen. Immerhin ein Hauch von Struktur. Das intuitive Stricken orientiert sich an meiner räumlichen Vorstellung der Schnitte für die Stoffwesen. Kopf und Hände werden später gefilzt, ich möchte dort keine Maschen sehen. Nach fast drei Jahren probieren und tun und studieren und lernen und wieder ausprobieren kann ich auf Einiges an Fertigkeiten zurückgreifen. Es wird spielerischer, leichter. Ich traue mir mehr zu. Und ich traue mich mehr. Es ist wie mit dem Lernen eines Instrumentes. Am Anfang sind in unserer Kultur die nervtötenden Etüden. Und irgendwann lernst du, dich zu lösen und zu improvisieren.
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Textile Skulpturen und unsichtbare Mächte
Die Eremitin in mir schränkt die Zeit auf social media auf ein Minimum ein. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Offensichtlich treffen diese Entscheidung mehr Menschen. Abos von besonders ängstlich nach Kontrolle schreienden Menschen aus der timeline zu entfernen ist eine Erleichterung. Wenn das Recht, recht zu haben, regiert, nehme ich mir das Recht, auf meine Art mit meiner Lebenszeit umzugehen. Und mit Menschen in Verbindung zu bleiben, die zuhören können, ohne zu missionieren, zu belehren oder ihre starren, engen Glaubenskonzepte wie Kriegsgebiete zu verteidigen. Es ist was dran, dass man Menschen erst in Krisenzeiten kennen lernt.
Wohl zum ersten Mal in meinem Leben gibt es keine Ablenkung durch einen geregelten Alltag. Unsere stille Entscheidung im Vorjahr, das große Haus in den nächsten Jahren für andere Menschen in einer Art Nachbarschaftsgemeinschaft mit Werkstätten zu öffnen und mit unseren Händen in kleinen Wohnraum zu investieren war richtig. Für uns. Gott sei Dank haben wir darauf gehört. Nichts geht von heute auf morgen. Abhängig davon, ob wir heuer Material ertauschen oder anschaffen können wird es weiter gehen. Ein Schritt nach dem anderen.

Mein Atelier ist mehr oder weniger fertig. Wie ich mich über die zwei gerade fertig gestellten Fensterumrandungen nach Süden freue! Nach den gefühlt eiskalten Monaten zu Jahresbeginn ist klar, dass noch eine Bodenisolierschicht dazu kommen wird. Fliegen, Wanzen, Marienkäfer und ähnliches Getier brauchen Grenzen, die zu befestigen und zu silikonieren sind. Der neue alte Arbeitstisch im Retrochic ist wunderschön anzuschauen und ein Segen für meinen Rücken. Der ganze Raum hat an Größe und Effizienz gewonnen. Die kleine ausziehbare Traumcouch lebt in meinem Kopf und wird ihren Weg zu mir finden, wenn die Zeit gekommen ist. Derzeit behelfe ich mir mit den Matratzen unseres ungenutzten Reiseautos. Und wir überlegen schon, wie sich eine auszieh- oder ausklappbare Holzkonstruktion gestalten ließe.

Ich arbeite an völlig neuen Köpfen. Es waren wirkmächtige Schritte, Grundsätzliches über den Aufbau von Puppenkörpern und Puppenköpfen aus der Technik der Waldorfpuppen zu lernen und auszuprobieren. Diese Art der Herstellung wird immer die Basis sein, die mir künstlerische Umsetzung ins Figurale ermöglichte. Und für kleine Wesen passt diese Herangehensweise weiter. Das Wort „Puppe“, das mir jahrelang gegen den Strich ging, mich triggerte und ärgerte war rückblickend betrachtet mein Prozess, der Einstieg in meine Kunst. Nun geht es ans freie Formen. Ich studiere Gesichter, Münder, Nasen, Augen und Ohren. Es ist ein Unterschied, ob ein menschliches Wesen lacht, weint oder giftig schaut. Der Ausdruck von Gefühl im Gesicht ist spannend. Zeichnend und malend kam ich nicht so recht weiter. Meine Welt ist das Formen mit den Händen. Daraus kann ich dann Schnitte ableiten, die auf Papier landen. Geometrische Körper und sie als Schnitt auszurollen beschäftigt mich, die Mathematik-Geschädigte. Da heilt wieder etwas. Derzeit scheinen die entstehenden Köpfe meiner Innenwelt zu entsprechen. Sie sind bunt und ich bemale sie mit Fäden, mit gefärbter Wolle, Pailetten und Perlen. Gehäkeltes und Gesticktes kommt zum Einsatz. Unglaublich, wie viele tutorials es dazu im Internet gibt! Im Hinterkopf warten Ideen für freie Applikationen mit Textilien und Stickfuß der Nähmaschine. Für den nächsten Kopf. Groß. Ich muss immer wieder groß arbeiten, mit dem ganzen Körper, unter Einsatz all meiner Kraft. Manchmal ist der entstehende Kopf größer als mein eigener. Immer kommt Material zum Einsatz, das ich bereits daheim habe. Danke Maria für den kostbaren Schatz an wunderschönem Material, auf den ich immer und immer wieder zurück greifen kann. Beim Herstellen der Köpfe entwickeln sich in meiner Fantasie Umsetzungsmöglichkeiten stabiler Körper für eine Ausstellung. Auch die haben mit dem Material zu tun, das ich in unseren Lagern finde. Drähte. Hölzer. Textilien und Dekorationselemente. Dieses Suchen und Finden setzt unglaublich viel kreatives und logisches Potential frei.

Nach Merime und dem Geldfresser beschäftigt mich nun ein Magier. Oder eine Magierin. Es ist vollkommen unklar, ob er eine Sie wird oder ein Er oder beides. Unser Jüngster sucht einen Namen für diese Figur. Immer wieder kommt er vorbei und seine „Aaahs“ und „Oooohs“, seine natürliche Freude an der Entstehung der Kopftätowierungen mit Nähseide und Nadel bestätigen mir meine gefühlten Schritte. „Immer habe ich mir so einen Magier vorgestellt. Der ist ganz sicher nicht aus Österreich, wahrscheinlich auch nicht aus Europa“, hat er mir gestern anvertraut. Und mit seinen einfachen Worten bestätigt, was ich beim Machen des Eierkopfes dauernd fühlte. Für mich ist es wieder eine dieser Phasen, von der ich nicht weiß, wohin sie mich führt. „Es“ ist einfach zu tun. Und es geht leicht, logisch, wie von selbst. Beim Tun kommen Ideen, Bilder, Worte. Und wenn ich glaube, nach diesem Kopf sei Schluss, dann täusche ich mich. Wie sonst soll ich mir erklären, dass sich noch nicht gemachte Augäpfel bis ins Detail und in die Montage in mein Tagesbewusstsein drängen und Formen annehmen. Nur die Gesichtsform kann ich noch nicht klar erkennen. Logisch. Mein Magier ist noch nicht ganz fertig.

Während ich hier an meiner Tastatur des Laptops meine Gedanken ordne und sortiere und verdichte legt mein Liebster draußen ein großes Gemüsebeet an. Die Saatkartoffeln sind am Weg. Ganz viele Pflanzen warten schon im Wintergarten, dass die Eisheiligen da waren. Ich werde heute Nachmittag mein Versprechen einlösen, die Südseite von den wilden Brombeerranken zu befreien. Ich wünsche rundherum ein sonniges, warmes Wochenende!
Orient loves Okzident
Auch eine Nacht drüber schlafen hat nicht viel bewirkt. Ich bin noch immer ganz bewegt, sehr berührt und emotional, wenn ich an den gestrigen Tag in Villach denke. Ich versuche euch ein wenig logisch strukturiert mitzunehmen.

Wer uns kennt, meinen Mann und mich, der weiß, dass sich unser Leben seit 2015 völlig verändert hat. Damals bin ich knapp vor meinem fünfzigsten Geburtstag, arbeite als Verwaltungsassistentin und weiß ganz sicher, dass diese Beschäftigung nur eine vorübergehende Lösung ist. Nach monatelangem Hin und Her, Ängsten und Zweifeln löse ich das mir vor Jahrzehnten gegebene Versprechen ein, nach meiner Zeit der Kinderbetreuung ein Jahr meiner Lebenszeit zu nützen, um MEINEM Weg nachzugehen. Diesem verdrängten, vernachlässigten Wunsch, Puppen herzustellen. Oder grundsätzlich irgendwas Richtung Künstlerin, weg vom reinen Geldverdienenmüssen, um zu überleben.

Das Leben ist 2015 auf seine ganz eigene Art mit meiner Bitte einverstanden. Es sendet uns direkt in die Nachbarschaft Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Afrika, Marokko und Armenien. Zuerst mit dem Transitlager Krumfelden. Danach mit dem ORS-Wohnhaus und begleiteten asylwerbenden Familien und Alleinstehenden in Pöckstein. Außerdem sendet es uns Österreicher*innen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt wenig oder gar nicht kannte. Menschen aus der Zivilgesellschaft, aus kirchlichen Institutionen, aus der unmittelbaren und weiteren Nachbarschaft und über Österreichs Grenzen hinaus. Ihr könnt das alles im Archiv unserer Blogbeiträge des Vereins DER.RAUM nachlesen. Dieses menschliche, herzwarme Netz trägt uns noch immer. Bis 2018 arbeiten wir fast nur ehrenamtlich. Künstlerisch, kochend, miteinander redend, Projekte entwickelnd, aufbauend, erfolgreich abwickelnd und scheiternd. Voll das Leben. Ich bekomme die Chance, alles an Material künstlerisch auszuprobieren, was es gibt. Wir forcieren das Upcycling und das Recycling, weil wir so viel Material geschenkt bekommen. Was sich für unsere Freund*innen als sinnvolle Beschäftigung, Deutsch lernen und Menschen kennen lernen herausstellt, formt meinen Weg zurück zu mir. Ich finde die Tür zu meinen textilen Skulpturen, den ich seit heuer gehe. Und meinen Geschichten, die ich fotografierend, skulpturierend und bloggend erzähle.

Ah, ich schweife ab! Zurück zu gestern. Als unsere Freund*innen 2017/18 nach und nach ihre positiven Bescheide bekommen, wird die Begleitung zu Ämtern und Behörden noch einmal sehr intensiv. Und dann – lassen wir die erwachsenen Männer und Frauen und ihre Familien los. Es tut weh – und es ist unserer Meinung nach nötig. Es fühlt sich an wie das Abschiednehmen von den Kindern in der Pubertät. Es sind immer noch die gleichen, geliebten Menschen unserer bunten Seelenfamilie. Doch sie gehen selbstständig in ihre neuen Leben. Einige hören darauf, dass wir Villach als nächstes Ziel vorschlagen. Es sind Vorschläge, weil wir wissen, dass in Villach eine sehr junge und nachhaltige Wandelbewegung aktiv ist, eine dynamische Veränderung, die Neues möglich macht. Einige gehen nach Wien, nach Linz und Salzburg, einige verlieren wir fast ganz aus den Augen. Social Media sei Dank, dass wir losen Kontakt halten können.

Als ich gestern mit Charlotte, einer Freundin aus dieser Zeit des Ehreamtes, bei Adnan, Lamis und ihren Söhnen in der nagelneu eröffneten arabischen Rösterei in der Villacher Postgasse stehe, fühle ich, dass die so oft gehörten Geschichten über den erfolgreichen Unternehmer aus Dar’a in Syrien wahr sind. Adnan ist in seinem Element, checkt, organisiert, lädt ein, bietet selbstbewusst sein Wissen und seine Produkte an. Er ist ganz Unternehmer, ganz Gentlemen. Nun endlich auch in Österreich. Seine Frau sprüht und funkelt vor Leben, kocht unermüdlich arabischen Kaffee im mit Sand gefüllten Heizbecken, dessen Fachname ich nicht kenne. Nein, das ist keine alte Tradition, sondern so ziemlich das Aktuellste, das die arabische Kultur anbietet, erklärt mir Adnan. Der Quarzsand speichert die Hitze der Kochplatte des Beckens. Die Spiegel an der Decke reflektieren die luxuriös anmutende Einrichtung in Schwarz, Gold und Weiß. Es duftet nach Kaffee, Nüssen – und Süßem. Mit von der Partie ist nämlich der Süßwarenhersteller und Schwager Aiman, der wunderbares arabisches Konfekt in Deutschland fertigen lässt. Erst jetzt kapiere ich, dass ich dieses Konfekt schon im Deutschkurs in Pöckstein genossen habe! Und das es nicht ein Geschenk aus irgendeinem Duty Free Laden war, sondern immer schon aus der Familie kam. Wäre der Krieg nicht gewesen, würde es immer noch in Syrien produziert und im angrenzenden arabischen Raum verkauft werden! Sehr schnell finde ich gestern eine optische und kulinarische Sensation aus Rosenblättern, Pistazien und Granatapfelkernen. Ja, die rosenwasserduftenden Köstlichkeiten sind wunderschön, köstlich und ein tolles Geschenk. Dieses Hellgrün-Magenta-Rot mit dem süß-sauren orientalischen Geschmack erobert allerdings mein Herz im Sturm und ich stelle mich gern hinter den anderen Käufer*innen an. Weihnachten ist schon erstaunlich nahe, gell?

Während wir arabischen Kaffee mit Cardamom verkosten, winkt mir vis à vis aus dem hellerleuchteten Schaufenster eine junge Frau zu. Sie kommt mir vage bekannt vor. Adnan lacht. Ja, ich sehe richtig! Das ist Azima! Die zweite Familie aus Pöckstein, die mit ihren Kindern Tür an Tür mit unseren Freunden wohnte und mit uns Deutsch lernte. Ich fasse es nicht! Die „Änderungsschneiderei Rosella“ besteht seit genau einem Monat und wird vom Schneidermeister Aref und Azima geleitet! Lachend umarmen wir uns. Wie immer gibt es schwarzen Tee und Azima’s Kuchen – Ausreden werden ignoriert. Wir aktualisieren unsere Kontaktinfos und reden und lachen. Der kleine Ivan, der mir noch als Baby in Erinnerung ist, lächelt mich schüchtern an.

Genug Überraschungen? Sorry, eine hab ich noch. Nach der Mittagspause steht in meinem Terminkalender, dass ich im Deins & Meins Gemeinwohlladen vorbei schauen will, um einen Platz für meine weihnachtlich angehauchten Wesen auszukundschaften. Also schnappe ich mir Mohammad und einige Visitkarten und wir statten der freundlichen Ladenhüterin einen Besuch ab. Der Gemeinwohlladen ist nicht irgendwo in der Postgasse. Natürlich nicht. Sondern unmittelbar daneben! Wie blind ich bin, ich habe doch die Fassade von außen fotografiert. Ich stelle vor, mache bekannt, erzähle die Geschichte der Familie und lade zum nachbarschaftlichen Austausch ein. Als meine Freundin und Betreiberin des Gemeinwohlladens, Ingun, gegen Abend tatsächlich auf einen arabischen Kaffee vorbeischaut, ist das Hallo groß. Mohammad und Hasan waren bereits bei den Tagen der Zukunft in Arnoldstein dabei, dort haben sie sich kennengelernt. Die Welt ist so klein und es tut so gut zu sehen, wie die schon gebauten Brücken gestärkt und genutzt werden. Ammar und Bakir stehen plötzlich vor mir, strahlen mich an. Ammar wartet noch immer auf seinen Bescheid, es ist unfassbar! Der irakische Theatermann, der bei unserer Bürgertheateraufführung so sehr glänzt, zittert immer noch, ob er in Österreich bleiben darf…

Als ich am Abend ganz bewegt von all den Gesprächen, Eindrücken und dem Gespürten in ein Philharmoniekonzert im Villacher Konzerthaus gehe, fällt mir noch aus den Augenwinkeln der Barbier auf, zwei Haustüren nach der Änderungsschneiderei. Diese Postgasse mit den gerade noch sterbenden Geschäften lebt wieder! Ich freue mich so auf meinen Puppenmacherkurs nächstes Wochenende in der VHS Villach. Ich weiß, wo ich meinen arabischen Morgenkaffee mit Cardamom trinken werde. Und ich bin gespannt, wen von euch ich im arabischen Kaffee treffe!
Proben und spielen

Nun sind wir soweit. Wirklich, wirklich. Die letzten Proben gehen heute zu Ende. Unsere Pop-Up-Werkstatt ist nur mehr Proberaum, die Handwerkerinnen und Handwerker haben ihre Geräte abgeholt, der Raum ist grundgereinigt. Berührend, welch großartige Entwicklungsschritte die Kinder und wir noch machen. Ein Kind hat plötzlich arg mit Lampenfieber zu tun. Drei andere überraschen uns vollkommen mit neuen, lebendigen Auftritten, neuen Formulierungen der Textpassagen. Die Musikstücke gehen jetzt mit links. Sogar in der Jausenpause draußen in der Fußgängerzone entstehen spontane Theatereinlagen. Mir ist noch immer zum Heulen vor Freude, weil leise Kinder sichtbar geworden sind und sich in ihren Körpern wohl fühlen. Wie sehr ich hoffe, dass einige Naturtalente in den nächsten Jahren unterstützt werden, einige der Kinder haben erstaunliches Potenzial. Hinter und vor der Bühne.

Bei den öffentlichen Proben vorbeischauende Erwachsene und Kinder bleiben fasziniert stehen. Ja, wirklich, die Kinder haben alle Handpuppen selbst gemacht. Und ja, tatsächlich, das Stück haben sie selbst geschrieben. Und gell, es ist schön, wenn eine Einkaufsstraße mit Kindergelächter erfüllt wird. Die Nachbarin bringt für die Kinder Schwimmarmbänder vorbei. Der italienische Eiscafebesitzer versorgt uns Erwachsene mit Coffeinnachschub. Ein Urlauberehepaar bedauert, dass es heute Abend abreist, so gern hätten sie die Kinder noch einmal live gesehen. Gestern bekommen die Kinder eine Spontandemonstration des mobilen Drehorgelspielers aus Meiselding zu sehen und zu hören. Wir begegnen uns am Hauptplatz mit unseren mobile Bühnen und er spielt uns zum Abschied ein Zigeunerlied.

Morgen Freitag und am Samstag um jeweils zehn Uhr sind wir mit unseren Abschlussaufführungen in der Innenstadt unterwegs. Wir haben unsere Standorte in den Schatten verlegt, es zahlt sich aus, gleich bei der ersten Station vor der Werkstatt dabei zu sein. Sitzgelegenheiten nicht vergessen, und vielleicht einen Sonnenschirm. Die Kinder sind bestmöglich vorbereitet und motiviert. Wir Erwachsene feiern bereits heute, dass alle Kinder unersetzliche Teile des Projektes geworden sind. Das war unsere Intention – dieses Ausschöpfen ihrer vielseitigen kreativen Möglichkeiten. Möge die Gesundheitsfee mit uns sein und ihnen morgen die Bühne geben, die sie verdienen. Und möge die eine oder andere Wolke uns vor allzu heißer Sonne schützen.

Lernzeit und Glück
Irgendwie – typisch ich. Da mache ich eine Sache intensiv. Eineinhalb Jahre. Und dann kommt sie wieder, diese Stimme. Geht das noch anders? Gibt es da noch etwas Anderes? Willst du das wirklich immer und für ewig weiter machen?

Genau. Alles hinzuschmeißen. Meine geliebte Lieblingsstrategie. Liebe Puppen, es war sehr schön. Es hat mich sehr gefreut. Dieses Mal, dieses Mal ist es anders. Drei Kurse mit sechs wunderbaren Frauen und einem wunderbaren Mann mit dem Lehren einfacher Puppen nach Waldorf-Art liegen hinter mir. Sie sind alle bezaubernd geworden, jede einzelne. Und ich weiß, dass bereits neue Wesen entstehen. Puppen machen ist hoch ansteckend. Jede Woche arbeite ich zusätzlich mit einem Dreamteam und Sechs- bis Zehnjährigen an Filzraben, an Paperclay-Köpfen für Handpuppen. Das Lernen löst bei mir Lernen aus. So gut wie täglich übersetze ich Seiten des genialen Buches „Anatomy of a Doll“. Es fühlt sich an wie ein Selbststudium, Puppenmachen und brushing up my English. Im Grunde lerne ich erst jetzt kennen, was sich hinter dieser Kunstform des Puppenmachens verbirgt. Die von mir so geschätzte Villacher Puppenmacherin Elli Riehl hat nicht umsonst großen Eindruck bei der kleinen Lisa hinterlassen. Elli Riehl war eine Künstlerin, durch und durch. Fotografierte Gesichter und Bewegungen im Geist ab und modellierte sie daheim mit Nadel und Faden in Flanell und Baumwollwatte. Im amerikanischen Buch tauchen ähnliche Puppen auf, hier spricht die Autorin vom „needlesculpting“, was ich frei als „mit der Nadel modellieren“ übersetzen würde. Und nein, nicht mit Filznadeln, das ist wieder eine andere Technik.
Bei mir führt all das Lernen und Forschen und Lesen dazu, dass ich noch einmal von vorne beginne. Ich beginne noch einmal bei den einfachsten Umrissformen. Es braucht so wenig, um menschenähnliche und manchmal archaische Wesen zu machen. Ich löse mich von schönen Schnitten, zeichne mir auf, was ich mir vorstelle. All die Themen aus unserer heilsamen „Body Positivity“-Frauengruppe inspirieren mich. Ebenso die eine geliebte Freundin, die wie eine Göttin tanzt, wenn sie sich den Raum dafür nimmt. Beim Tun entstehen sofort neue Ideen. Wie sehr es mir jetzt zugute kommt, dass ich wunderschöne alte Kleidungsstücke, Innenraumstoffmuster und all das andere Klimbim sortiert und aufbewahrt habe. Heute beim Aneinandernähen meiner ersten einfachen Skulptur spüre ich sie wieder: reine Freude gluckst bauchaufwärts, nimmt mir fast die Luft zum Atmen, löst unkontrollierbares Herzklopfen aus. Es ist reine Lust am Tun aus mir heraus. Eine Überdosis Glück. Nebenwirkungsfrei.

Wie immer in solchen Zeiten habe ich absolut keine Ahnung, wohin die Reise geht. Ich reise, also bin ich. Mein ältester Sohn, der jetzt elf Monate auf diesem Planeten allein mit seinem Rucksack unterwegs ist, verspricht, auf allen Kontinenten Puppenformen abzufotografieren und sie auf Instagram hochzuladen. So weiß ich auch, wo er gerade ist. An einem entsprechenden Hashtag tüfteln wir noch. Darüber schreibe ich zu einem späteren Zeitpunkt mehr.

Nebenbei geschieht still und leise Frühling und Frühsommer. Ich übersiedle täglich Teile meines Lebensmittelpunktes in meinen Wohnwagen, der derzeit vor allem Studio und lichtdurchfluteter Arbeitsplatz ist. Möglicherweise schaffen wir heuer den Um- und Ausbau meines Außenstudios nebenan, von dem ich träume. Wir. Ich will ehrlich sein. Alexander und Sami schuften, damit der angeräumte Raum wieder leer wird. Der Raum wird später hauptsächlich aus gesammelten Fenstern und Glastüren bestehen. Schwedenrot für den Außenanstrich, ganz hell und sparsam eingerichtet innen. Herzklopfen auch hier.

Presse und Pop-Up
Die Osterferien sind vorbei. Voller Begeisterung nehmen wir die getrockneten Paperclayköpfe in die Hand und glätten und formen noch ein wenig am Charakter der Handpuppenköpfe. Wie leicht die Dinger sind! Und wie ausdrucksstark!
Kurz entsteht Aufregung. Die Redakteurin einer Kärntner Tageszeitung ist gleich im Morgenkreis mit dabei, um ein Gefühl für unser Projekt zu bekommen. Benjamin und Franziska, zwei unserer großartigen Viert-Stufen-Kinder, wissen eine ganze Menge zu erzählen, als sie interviewt werden. Einmal mehr wird mir klar, auf wie vielen Ebenen unser Projekt wirkt. Einerseits profitieren besonders die stillen Kinder davon, dass sie sich eine Bühne nehmen und mit ihrer Stimme präsent sein dürfen. Andererseits praktizieren wir ständig Recycling und Upcycling und die Kinder sind wie nebenbei mitten im Tun, ohne dass wir ihnen lang und breit erklären müssen, wie pädagogisch und nachhaltig und sinnvoll es ist, dass sie mit alten Zeitungen Köpfe herstellen, aus gebrauchten Stoffen Handpuppenkörper herstellen und einen alten Kasten zur Puppentheaterbühne umbauen. Unsere Herbergsuche für einen Probe- und Arbeitsraum bei den Menschen auf der Stadtgemeinde hat uns zu einem tollen Leerstand mitten in der Innenstadt geführt. Unglaublich, wie entgegen kommend erwachsene Menschen sind, wenn es um Kinder und ihre Projekte geht. Zwei Monate nutzen wir Räume als Pop-Up, das heißt wir sind vorüber gehend da und dann wieder weg. Wie es aussieht hat die Großzügigkeit unseres Herbergsvaters sich bereits auf sein Leben ausgewirkt: der erste Interessierte hat sich die Räume für den Sommer angesehen. Das ist es, was mit der Bespielung und Belebung des Leerstandes ebenfalls geplant war: die praktische Sichtbarmachung kommunaler Intelligenz in der Entwicklung einer Kleinstadt. Und dass es in einer Innenstadt um Einkauf und Geschäfte gehen kann aber nicht muss. Die Kinder werden den Erwachsenen schon zeigen, was möglich ist.
Heute üben unsere Nachwuchsschauspieler den Einsatz ihrer Stimme. Paarweise geben sie Witze wieder, auch wenn sie nicht verstanden wurden. Hach, Kinder schlüpfen einfach in Rollen und spielen. Sie sind die geborenen Dadaisten. Zum ersten Mal hören wir die einstudierten Musikstücke mit Instrumenten. Hemma sagt, sie hat Gänsehaut, so schön klingt alles bereits. Am Ende des Vormittages packen wir Sitzkissen zusammen und wandern durch die Stadt zu unserem zukünftigen Arbeitsraum. Das ist ein Staunen und Jubeln. Ganz spontan, ohne Aufforderung einer Begleitperson haben die Kinder den Wunsch, eines der Rabenlieder zu singen. Und sie setzen sich durch. Ganz ohne Scheu stehen sie mitten am Herzog-Bernhard-Platz im schrägen Licht des heutigen Sahara-Sand-Himmels und geben ihr erstes Livekonzert des Projekts. Wir sind gespannt wie lange es dauert, bis die Italiener vom Eiscafé vis à vis auf uns aufmerksam werden…
Diese kurze Schulwoche nach längeren Ferien zeigt sich an den Kindern. Heute sind nicht wir müde, sondern sie. Und doch freuen sie sich auf die nächste Probe in den neuen Räumen. „Lisa, wir möchten gern Publikum spielen“, vertrauen mir zwei kichernde Schüler an. Oh wie recht sie haben. Auch die Aufführung, der Plan, wie unser Publikum quer durch die Stadt mitgenommen werden soll, ist noch zu proben. Aber das ist, frei nach Michael Ende, eine andere Geschichte, die ein anderes Mal weiter erzählt wird.

Kunst, Kind und Pop-Up
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Rückblick und Dankbarkeit
Puppen kommen ins Leben
Ein volles Jahr Leben. Mit Krisen. Erfolgen und Niederlagen. Stops und Neuanfängen. Voll das Leben. All die Wesen, die heuer in Form von Puppen zur Welt kommen. Irgendwann im April geht es so richtig los. Nach Wochen in der Werkstatt des Herumprobierens, Schnittezeichnens und Tüftelns. Plötzlich wird es für meine Finger klarer, was sie zu tun haben. War es nicht mehr nur neu. Sondern formten sie bewusst. Ganz schön viel Veränderung von April bis Dezember. Im Juni fahre ich mit dem Puppen.Raum zu den Tagen der Zukunft und überarbeite gemeinsam mit den Coaches die Herangehensweise. Da gibt es auch die nächsten Jahre noch viel und ausreichend zu tun. Im Herbst kaufen drei von uns Frauen sich ein Wensleydale-Schaf. Schließlich und endlich brauchen wir Locken für unsere Puppen. Lara ist eine entzückende Schafsdame und lebt ab sofort bei meiner Freundin und Schafzüchterin am Berg.
Nähmaschinenführerschein ermöglicht Picknickdecken
Wir laden ein zum gemeinsamen Nähen beim Verein VOBIS in den Räumen des Volxhauses in Klagenfurt. Ein paar Österreicherinnen wagen sich in den Kurs. Gemeinsam mit interessierten Frauen mit syrischem, irakischem und afghanischem Hintergrund lernen sie von Renate Maschinen zu reinigen, zu warten und nähbereit zu machen. Und von mir lernen sie, dass Möbel- und Vorhangstoffmuster zu neuem Brauchbarem umgenäht werden können. Aufbewahrungskistchen. Und Picknickdecken für den Sommer.
Why not Begegnungsfest?
Während die Studierenden der FH Kärnten/Spittal über Plänen brüten, fangen wir an, die grindige und vollgestopfte Kegelbahn auszuräumen, auszuweißen und zu putzen. In einer beispielslosen Aktion mit vielen ehrenamtlichen Händen laden wir im Juni zum ersten Begegnungsfest in die alte Kegelbahn ein. Überhaupt feiern wir viel dieses Jahr. Gemeinsam mit VOBIS beim Fest der Kulturen, beim Freudenfest, hier bei uns im Haus beim Sommerfest, bei Best of the Rest ein Weihnachtsfest.
Fotochallenge schult das Sehen
Unter dem Hashtag #derraum365 werden sich bis Weihnachten 2018 exakt 2550 Fotos angesammelt haben. Lars Poeck und sein Kreativbuch inspierieren nicht nur mich dazu, Fotografie auch aus anderen Perspektiven und mit anderem Fokus als üblich auszuprobieren. Wir wachsen zu einer Gruppe von Fotografinnen und Fotografen im deutschsprachigen Raum zusammen. 365 Tage und 365 Fotos. Einige haben tatsächlich fast jeden Tag durchgehalten. Ich sogar in unseren drei Wochen England mit den 7700 gefahrenen Kilometern. Ich schwächle erst in den letzten Wochen. Und erfinde dabei gemeinsam mit meinem Mann eine Fotochallenge für 2019, die den Weg ein bissel leichter machen und uns kreativ vermutlich noch mehr herausfordern wird.
Danke ihr alle, Danke Leben – wir freuen uns auf 2019!